Ein Krisen-Kommentar (erschienen in der Wirtschafts-News 1/2021, März 2021)
Seien wir ehrlich: Nach über einem Jahr in der Pandemie können wir das Wort „Corona“ kaum noch hören, ohne die Augen zu verdrehen. Keine der unzähligen Ansprachen, Talkshows oder Expertenrunden bringt echte Konzepte hervor, um der Situation im Hier und Jetzt sinnvoll zu begegnen. Stattdessen wechseln sich halbherzige Lockdowns mit sehnsuchtsvollen Lockerungen ab und tief im Inneren wissen wir, dass keine der symptomatisch ausgerichteten Maßnahmen ein wirksames Ausbrechen aus dem Kreislauf in Sicht bringt.
Es ergibt keinen Sinn, Komfortzonen nachzutrauern.
Diese Pandemie ist eine Tiefenkrise. Sie durchdringt alle Lebensbereiche und alle gesellschaftlichen Schichten. Mit Blick auf die Gesamtbevölkerung kann sich kaum jemand der Ansteckungsgefahr des Virus oder deren Auswirkungen nachhaltig entziehen. Die Intensität, in der die Krise Menschen und Branchen trifft, ist natürlich unterschiedlich. Doch allen gemeinsam ist der Verlust von Freiheit und Unabhängigkeit innerhalb der eigenen Komfortzone – wirtschaftlich, gesundheitlich und emotional. Niemandem steht hier die moralische Bewertung des individuellen Leids zu und auch nicht des Erfolgs, den Corona für einige Unternehmen und Vorhaben unbestritten mit sich bringt. Vergleiche bringen uns als Gesellschaft ohnehin keinen Schritt schneller aus dieser Krise. Denn es ist eben der Charakter einer Tiefenkrise, dass sie neben den Konsequenzen für den Einzelnen, auch umfassende gesellschaftliche Umwälzungen zur
Folge hat, denen es zu begegnen gilt. Disruption auf ganzer Linie, sozusagen.
Dringend gesucht: Der Weg aus Orientierungslosigkeit und Chaos
Disruptionen verunsichern und können zu Orientierungslosigkeit bis hin zum Chaos führen. Das passiert allerdings nur, wenn Gegenreaktionen ausbleiben und sich das toxische Momentum unserer – auch medial – überreizten Gesellschaft frei entfalten kann.
Doch jede Bewegung, jeder Trend, ruft – wenn er stark genug ausgeprägt ist – einen balancierenden Gegentrend auf den Plan. So befördern beispielsweise die allgegenwärtigen Megatrends der Digitalisierung und Individualisierung einerseits die Dynamik des Medienkonsums in Geschwindigkeit und Vielfalt. Andererseits und gleichzeitig steigt das Verlangen nach linearen Sozio-Techniken, die konstruktiven Dialog und erkenntnisreichen Diskurs ermöglichen. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich aktuell neben dem haptischen (Sach-)Buch auch audio-fokussierte Medien wie Podcasts und Plattformen wie >Clubhouse< wachsender Beliebtheit erfreuen.
Der Schock als Blockadenlöser?
Nun sind Krisen unbestritten besondere Trendverstärker. Und so erfährt auch die Wahrnehmung dieser Pandemie als zerstörerisches Ereignis, das überstanden werden muss, nach dem ersten Schock einen Gegentrend. Schließlich geht es ums Überleben in mannigfaltiger Hinsicht. Daher verwundert es nicht, dass die Vermächtnisstudie der ZEIT aus dem Herbst des letzten Jahres feststellt, dass rund 70% der repräsentativ Befragten überzeugt sind, dass man in der Krise „etwas Positives erkennen und in die Zukunft mitnehmen sollte.“ Fast 60% sagen, dass sie dies bereits tun.
Kann die Corona-Pandemie also tatsächlich Blockaden lösen? Hoffentlich! Denn sie wirft uns auf den Kern unseres Menschseins zurück und wir stellen uns wieder die essenziellen Fragen: Wer sind wir eigentlich, wenn uns alle unsere wohlbekannten Rollen und Schemata als Unternehmer:in, Arbeiternehmer:in, Versorger:in, Freund:in und Partner:in genommen werden? Was ist unser Wesenskern und welchen Platz wollen wir in der Gesellschaft einnehmen?
Die Wiederentdeckung von Selbstwirksamkeit und Verantwortung
Dass gewinnbringende Antworten nicht „top down“ zu erwarten sind, dürfte spätestens nach der zweiten Infektionswelle und angesichts der Ausbreitung der neuen Mutationen klar sein. Auch die verzweifelte Hoffnung, dass wir „nach Corona“ gesellschaftlich möglichst da weiter machen können, wo wir aufgehört haben, ist eine Illusion ohne Wert. Zum einen, weil dieses Virus in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird. Zum anderen, weil der tiefgreifende Wandel unserer Gesellschaft, die sich den Bedrohungen durch Klimawandel, Menschenfeindlichkeit und einem vor dem Kollaps stehenden Turbo-Kapitalismus entgegenstellt, schon lange vor Corona begonnen hat.
Die Pandemie beschleunigt diese grundsätzlichen Umwälzungen, die ohnehin nicht mehr aufzuhalten sind. Zum nachhaltigen Erfolg können sie jedoch nur von mündigen, mutigen, verantwortungsbewussten und aufrichtigen Menschen horizontal aus der Gesellschaft heraus geführt werden.
Dringend gefragt: neue Offenheit statt neuer Normalität
Somit ist es Zeitverschwendung zu warten, bis jemand „von oben“ mit der zündenden Idee kommt oder jeder sich impfen lassen kann. Besser wir ergreifen die Chance des Stillstands im Aufbruch ganz bewusst, um unsere Werte neu zu explorieren, eine glaubwürdige Haltung zu den für uns wichtigen Themen einzunehmen und den Nutzen, den wir bringen, zu kommunizieren. Denn nur wer weiß, wer er/sie ist, bleibt – unabhängig von Berufsbild oder Branche – flexibel und kann innerhalb einer wirtschaftlich erfolgreichen und solidarisch starken Demokratie einen echten Mehrwert für sich und andere bieten. Damit lenkt diese Tiefenkrise den Fokus auf das Wesentliche, das es weiterzuentwickeln gilt. Sie fordert den Status Quo konsequent heraus und bringt neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens hervor – mit enormer Geschwindigkeit und Nachdruck, die aus der Not geboren sind, doch ohne die uns ihre dringende Notwendigkeit niemals schon heute so bewusst geworden wäre.
Und jetzt? Die Hoffnung mit Leben füllen!
Das sind sie wohl nun, die Bausteine jener Zuversicht, die ein Großteil der Bevölkerung spürt und die den Angst und Bange machenden Verschwörungstheoretikern und Polemikern den Nährboden entziehen: der Mut, Krisen anzunehmen, ein klares Bild der eigenen Identität, der unbedingte Wille zum verantwortungsbewussten Handeln und die Erkenntnis, dass Empathie und Kooperation weitaus größere Erfolgsfaktoren sind als eitles Wetteifern um den aufmerksamkeitsstärksten Oho-Effekt.
Die Generation Z macht uns schon vor, wie man diese Zuversicht lebt – machen Sie mit?