Die deutsche Sprache gilt zu Recht als gleichermaßen exakt wie vielfältig. Eine der ersten Übersetzungen der gesamten Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen erfolgte durch Martin Luther ins Deutsche; der sprachliche Reichtum der Literatur von Goethe, Schiller oder Thomas Mann ist ebenso beeindruckend wie das Bemühen um begriffliche Genauigkeit in den Schriften zahlreicher auf Deutsch denkender und schreibender Philosophen wie Kant, Heidegger oder Wittgenstein.
Wir Heutigen leben – oft unbewusst – mit der Selbstverständlichkeit dieses reichen kulturell-linguistischen Erbes und empfinden es keineswegs als übertrieben, von einer „Gleisschotterbettungsreinigungsmaschine“ oder der „Grundstücksverkehrsgenehmigungs-zuständigkeitsübertragungsverordnung“ zu sprechen, um möglichst präzise auszudrücken,
wovon die Rede sein soll, ohne es allzu aufwändig und in ergänzenden Nebensätzen umschreiben zu müssen.
Und doch gibt es auch im Deutschen Worte wie „jetzt“, bei denen jegliches Unterfangen, durch seine Nennung zu einer verbindlichen zeitlichen Konkretion zu gelangen, beständig scheitert. Etymologisch (also die Wortherkunft betreffend) stammt dieses Adverb aus dem mittelhochdeutschen iezuo, das seinerzeit schon für „gerade jetzt“, „eben“ aber auch für „gleich“ stehen konnte.
Wann genau ist also „jetzt“?
Wenn „jetzt“ synonym für „in diesem Augenblick“ verwendet wird, ist von einer sehr kurzen Zeitspanne auszugehen: „Jetzt fährt der Zug ab.“ ist eine Feststellung, die man in dem Moment trifft, in dem der Zug sich zu bewegen beginnt. Ebenso eindeutig ist die Feststellung „Jetzt schlägt die Uhr zwölf.“ – man kann das Schlagen der Kirchturmuhr regelrecht mithören. Hier geschieht das Unmittelbare: der Zeithorizont liegt bei ein paar Sekunden. Bei einem hochklassigen 100-m-Sprint kann man bereits nach weniger als 10 Sekunden sagen: „Und jetzt ist es schon wieder vorbei.“
Die erste Verlängerung auf der Zeitschiene erlangt das Wörtchen „jetzt“, wenn es im Sinne von „gleich“ verwendet, wird: Mit „Jetzt um 16.30 Uhr: Bauch, Beine, Po mit Vanessa“ wirbt ein Einspieler auf dem Big Screen in meinem Fitnessstudio samstags bereits ab 16.00 Uhr. Eine frühzeitige Ankündigung, die genug Zeit lässt, um sich mental gebührend auf den Kurs vorzubereiten, zugleich aber suggeriert, dass es sofort losgeht, und eben nicht erst gleich. Der Zeithorizont liegt hier gefühlt bei bis zu einer Stunde, abhängig vor allem davon, wie intensiv oder kurzweilig die Zeit bis dahin vergeht.
Man vergleiche hierzu das Gefühl für 10 Minuten, wenn „Die Mannschaft“ beim Endspiel der Fußball-WM mit 0:1 hinten liegt und der Kommentator in der 80. Minute sagt: „Jetzt ist es gleich vorbei!“, während du panisch die Sekunden bis zum Abpfiff zählst, mit dem Gefühl für 10 Minuten, wenn der Arzt in der Notaufnahme dir beim Anblick deiner offenen, stark blutenden Unterarmfraktur zum dritten Mal ermunternd „Jetzt kommen Sie aber wirklich gleich dran!“ zuruft, während du panisch die Sekunden bis zu deinem ganz persönlichen Abpfiff zählst.
Auf einer zeitlich noch deutlich weiter gefassten Bedeutungsebene kann „jetzt“ aber auch für „heute, heutzutage“ stehen. Wenn wir sagen, dass wir „heute“ über vieles anders denken als früher, wird klar, dass „jetzt“ auch für deutlich mehr als einen Moment stehen kann: hier geht es um die Gegenwart im Sinne einer ganzen Epoche, die Jahre, ja sogar Jahrzehnte umfassen kann und sich dadurch vom – zeitlich ebenso unbestimmten – „früher“ abgrenzt. „Jetzt“, im Sinne von „heute“, glauben immer weniger Menschen noch, dass die Sonne sich um die Erde dreht oder dass raffinierter Zucker gesund für den Körper ist.
Dann gibt es noch die Verwendung von „jetzt“ in der Bedeutung von „nun“. „Bist du jetzt zufrieden?“ oder „Jetzt ist es aber genug!“ signalisieren das Ende eines Zeitstrahls. Zumindest ist davon auszugehen, dass ein bestimmter Punkt (etwa der, an dem die Geduld erschöpft ist) erreicht worden ist und nach dem Aussprechen eines solchen Satzes eine grundsätzliche Veränderung gewünscht oder erwartet wird. Eine Festlegung auf eine bestimmte Sekunde, Minute oder Stunde, in der danach etwas Neues beginnen wird, würde man dabei aber eher als nebensächlich empfinden.
Und schließlich gibt es – nur der Vollständigkeit halber – noch die Verwendung von „jetzt“ ohne eigentliche Bedeutung, zum Beispiel in dem Fragesatz „Von wem mag jetzt wohl dieser Brief sein?“ oder in der entsetzten Äußerung „Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!“. Hier wirkt das partikelhaft verwendete „jetzt“ intensivierend und satzbelebend, ohne dass damit überhaupt irgendein konkreter Zeitpunkt oder eine bestimmte Zeitspanne gemeint ist.
Jetzt ein Ausrufezeichen setzen
Im Marketing hat die Zeitformel oft einen rein appellativen Charakter im Sinne von „in diesem Augenblick“ („Jetzt zugreifen!“, „Jetzt mitspielen und wertvolle Preise gewinnen!“) und wird als „Call2Action“ verwendet. Die Konsumenten sollen möglichst sofort eine Kaufentscheidung treffen; wer weiß schon, wann sie das Verkaufsdisplay im Handel oder den Online-Banner im Netz das nächste Mal bewusst wahrnehmen? Das „Appellative“ erfordert übrigens zwingend ein Ausrufezeichen!
Calls2Actions wie „Jetzt wechseln und sparen!“, „Jetzt schon an morgen denken!“ oder „Jetzt im Kopf umparken!“ sind hingegen eher im Sinne von „gleich“, „umgehend“ oder „demnächst“ zu interpretieren, vor allem, was die zu erwartende Wirkung oder Auswirkung anbelangt. Sie verbinden die unmittelbare Entscheidung mit dem Versprechen einer positiven Veränderung, die auf wundersame Weise schon in dem konkreten Moment beginnen wird, in dem etwa eine neue Versicherungspolice unterschrieben, ein attraktiver Fondssparplan aktiviert oder ein reichweitenstarkes Elektroauto angeschafft werden.
Im Sinne von „nun“ sind wiederum Claims wie „Jetzt auch in Burkina Faso erhältlich!“ oder „Jetzt neu in der 200g-Packung!“ gemeint. Ein bekannter Hersteller von Schokopralinen mit frischen Kirschen drin wirbt so sehr erfolgreich mit der Saisonalität seines Angebots („Endlich wieder da!“), wobei hier, besonders elegant, auf die Nennung des Wörtchens „jetzt“ sogar verzichtet werden kann.
Ein grundlegender Epochenwandel im Sinne von „heute“ oder heutzutage“ soll schließlich bevorstehen, wenn ganz Großes angekündigt wird. Hier soll mit Altem, in der Vergangenheit Liegendem, bewusst abgeschlossen werden: „Jetzt ist die Zeit reif für den neuen Genuss!“, „Jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung!“ oder, beliebt als besonders zustimmungsfähiges Statement auf Plakaten politischer Parteien: „Unsere Zukunft beginnt jetzt!“. Wir derart grundsätzlich Angesprochenen sollen und dürfen uns dabei gern als Protagonisten eines Paradigmenwechsels fühlen, den damit verbundenen Effekt der Steigerung der eigenen Bedeutungsschwere inklusive.
Jetzt ist zeitlos
Für mich ist insgesamt die Beobachtung interessant, dass wir – in der Umgangssprache ebenso wie im Marketing – immer mehr Zeitpunkte oder Zeitverläufe mit dem Adverb „jetzt“ in der Bedeutung von „in diesem Augenblick“ versehen, auch wenn sie genau genommen nicht immer dieser Kategorie zuzuordnen wären.
Vielleicht ist das so, weil wir vermehrt das Bedürfnis verspüren, im zeitlos erscheinenden, stetig schneller fließenden Strom der zunehmenden Informationsüberflutung immer wieder innehalten und eine Standortbestimmung vornehmen zu wollen, um uns zu bestätigen, zu orientieren und neu zu definieren. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass wir immer mehr erkennen, wie wichtig es ist, im „Jetzt“, im „Heute“, zu leben und die Gegenwart im Sinne von „jeden Moment unseres Lebens“ intensiv zu (er)leben und zu genießen.
So ging es mir übrigens auch beim Schreiben dieses Artikels, den zu beenden es „jetzt“ an der Zeit ist, nicht in einer fernen, besseren Zukunft, nicht später, nicht gleich, sondern genau in dieser Sekunde. Und Danke für Eure Geduld.
Herzliche Grüße,
Euer Tom Eisenlöffel